Rade
Ab ca. 750 konnte Rade, bedingt durch die 6. Regression (Absinken) der Nordsee, auf der neu entstandenem Marsch auf dem Uferwall der Unterweser wieder gesiedelt werden. In dieser Zeit wurde sicherlich auch Rade gegründet.
Die Nordsee hat in den letzten 3000 Jahren mehrere Regressions- und Transgressionsphasen durchlaufen (Dr. Karl-Ernst Behre, NIhK, Norddeutsches Institut für historische Küstenforschung).
Ab ca. 950 begann die 6. Transgressionsphase (Anstieg) der Nordsee. Durch den langsamen Wiederanstieg des Meeresspiegels wurden die noch recht jungen Siedlungs- und Wirtschaftsflächen am Weserufer zunehmend durch Überschwemmungen bedroht. Unsere Vorfahren ließen sich davon nicht abschrecken, zum Schutz ihrer Flächen begannen sie im 11. Jahrhundert mit dem Deichbau und damit einhergehend auch mit dem Sielbau.
Unter den Dörfern der Osterstader Marsch wird Rade erstmalig um 1100 erwähnt; nach Rechtenfleth 860, Sandstedt 1050 und Wurthfleth 1059.
Die Schreibweise des Ortsnamen, wenn man einige Landkarten der letzten 400 Jahre betrachtet, ist sehr unterschiedlich. Von 1600 bis 1650 findet man “Raah“ und “Rahde“ von 1650 bis 1850 nur noch “Rahde“ und ab 1850 die heutige Schreibweise “Rade“
Aber auch in der Zeit um 900 v. Chr. (ausgehende Bronzezeit) wurde hier auf dem Weser-Uferwall gesiedelt, in einem Zeitabschnitt, in dem noch rein natürliche Verhältnisse herrschten. Beim Ausbaggern einer Pütte (am Deichfuß 120 m nördlich der Inselstraße) für den Deichbau konnten im Sommer 1983 zahlreiche Baumstubben, Siedlungsreste und Artefakte aus einer Tiefe von etwa 2 m unter der heutigen Oberfläche geborgen werden. Die Siedlung befand sich in einem Hartholz-Auenwald bestehend aus Ulmen, Eichen, Erlen und Eschen. Dokumentiert wurden diese Funde durch das NIhK. Wie lange die Siedlung bestanden hatte ist schwer zu beurteilen. Die Bedingungen dieser Zeit waren wohl recht günstig, denn die Nordsee hatte zwischen dem Ende der 2. Regression (ca. 1100 v. Chr.) und dem Beginn der
3. Transgression (ca. 500 v. Chr.) einen Tiefstand von ca. -1,7 m NHN erreicht. 2018 beträgt der vergleichbare Pegel +1,8 m NHN. Spätestens mit dem Beginn der 3. Transgression musste die Siedlung wohl aufgegeben werden. Eine ähnliche und schon 1971 dokumentierte Siedlung fand man bei Sielbauarbeiten für das neue Strohauser Sieltief im Bereich Rodenkirchen. Ein Bronzezeithaus wurde 2005 in unmittelbarer Nähe des Fundortes nachgebaut und kann während der Sommermonate besichtigt werden (http://www.bronzezeithaus.de).
Die Weser führte ursprünglich sehr viel dichter am Ort vorbei. Bis ca. 1350 verlief der Hauptschifffahrtsweg von Rekum bis Sandstedt unweit der jetzigen Deichlinie. Das Gewässer mit der Bezeichnung “Alte Weser“ entspricht wahrscheinlich dieser alten Schiffsroute. Ab ca. 1350, mit Beginn der 7. Regression, verlandete die rechte Weserseite zunehmend, der Hauptstrom verlagerte sich zur linken, oldenburgischen Seite. Das herrschaftlich geprägte Oldenburg versuchte ab dem 16. Jahrhundert seinen Nutzen daraus zu ziehen und sah es als legitim an für alle flussauf- und flussabwärtsfahrenden Schiffe Gebühren zu erheben. Die bürgerlich und kaufmännisch ausgerichtete Hansestadt Bremen war damit nicht einverstanden, bis zur Einigung gab es einen langen und sehr heftigen Zollstreit darüber. Im April 1895 vollendete Ludwig Franzius die erste Weserkorrektion, den damaligen Vorstellungen entsprechend bekam die Unterweser eine geradlinige, trichterförmige Form. Die Weserkorrektion veränderte auch den Rader Außendeich, es entstand ein Gelände so wie wir es heute kennen.
Rade ist - wie die ganze Osterstader Marsch - häufig von Katastrophen heimgesucht worden, so schreibt unter anderem Johann Gottlieb Visbeck in seinem Buch “Die Nieder-Weser und Osterstade, 1798“ über Einbrüche des Wassers in Osterstade.
1570, d. 1. Nov. wurden alle Marschländer, Landwürden, und auch Osterstade überschwemmet. Die Schleuse zu Aschwarden ging verlohren. 3 Häuser zu Rechtenflet wurden weggespület. Man nannte sie die Allerheiligen-Flut. 1685, d. 25. Nov. ging der Rechtenfleter Siel weg. Zu Rechbe riß eine große Bracke, und einige Häuser gingen fort. Sie hieß die Catrinen-Flut. 1686, d. 12. Nov. wurde Osterstade abermahls überschwemmet. 1703 im Jan. brach der Deich zu Rechtenflet, riß eine Bracke von etliche
20 Fuß tief. 1717, den 25. Dec. gingen die Siele zu Aschwarden und Offenwarden weg; 2 Jahre lang stand das Land offen, und wurde bey jeder Springfluth unter Wasser gesetzt.
Bei der Sturmflut von 1717 wurden in Rade 5 Häuser zerstört und der Deich auf einer Länge von 280 m weggerissen.
Am 4. Februar 1825 wurde Osterstade abermals überflutet, in 31 Rader Häusern stand das Wasser zwischen 30 und 90 cm hoch. Die Sturmflut, in der Nacht vom 16. Auf den 17. Februar 1962, ist für viele Rader noch in katastrophaler Erinnerung. Die besonders gefährdeten Häuser am Deich wurden geräumt, Frauen und Kinder wurden mit Privatwagen und mit Lastwagen der alarmierten Bundeswehr nach Neunkirchen evakuiert. Da der Deich unterschiedlich hoch war, lief an einigen Stellen das Wasser über. Vier oder fünf Häuser am Deich wurden im cm-Bereich mit Wasser geflutet. Die Flut spülte eine riesige Menge Treibsel auf und vor dem Deich, damit war die Macht der Wellen gebrochen und hat wahrscheinlich dazu beigetragen einen Deichbruch zu verhindern.
Neben Sturmfluten gab es drei weitere Schicksalsschläge für Rade, die das Ortsbild wesentlich prägten: Am 27. April 1769 vernichtete ein Brand 5 Volle Höfe, 11 Kothstellen (auch Köthner, Pächter mit kleinem Eigenbesitz), Scheunen, Backöfen und Kofen (Koben, Schweinestall). Am 7. April 1854 vernichtete wiederum ein Großfeuer 19 Gebäude. Am 6. Mai 1929 fielen dreizehn Gebäude (Schulhaus, Wohnhäuser, Scheunen) den Flammen zum Opfer. Der Südwind trug den Brand von Gebäude zu Gebäude weiter, zumal er in den Reithdächern gute Nahrung fand. Seit der letzten Brandkatastrophe gibt es nur noch wenige Reithdachhäuser im Dorf. Die Rader Feuerwehr war zu dieser Zeit noch mit einer Handfeuerlöschspritze ausgerüstet, erst im Jahre 1941 wurde diese durch eine Motorspritze mit dem dazugehörenden Mannschaftswagen und Gerät ersetzt.
Die einklassige Schule war abgebrannt, sicherlich haben viele Schüler nun mit einer recht langen Ferienzeit gerechnet. Doch daraus wurde nichts, die Gemeinde Aschwarden stellte den 2. Klassenraum für die Rader zur Verfügung. Am 12. Mai 1929 wurde beschlossen, dass die Rader von nun an in Aschwarden zur Schule gehen. Am 20. Januar 1930 konnte die neu erbaute, einklassige Schule eingeweiht werden und der Schulbetrieb war jetzt wieder in Rade. 1962 wird das 9. Schuljahr in Niedersachsen eingeführt. Ab Ostern 1963 und für die Schüler ab dem 7. Schuljahr ist die Schule von nun an in Neuenkirchen. Am 31. Juli 1971 hat die Schule in Rade aufgehört zu bestehen. Aufgrund des damaligen Änderungsgesetzes dürfen allgemeinbildende Schulen nur insoweit fortgeführt werden, als die vorhandene Schülerzahl eine Gliederung in Jahrgangsklassen zulässt. Für 31 Kinder aus vier Jahrgängen bedeutete dies, dass sie mit Beginn des neuen Schuljahres in Neuenkirchen zur Schule gehen.
1828 bis 1849, Straßenbau
1828 fing man an Chausseen zu bauen. Jede Bauernstelle musste jährlich 6 Tage unentgeltlich ein Gespann stellen; ja, bis nach Burgdamm und Scharmbeckstotel hin mussten sie Spanndienste leisten. Der Weg über Vegesack nach Bremen war so sandig und schlecht, dass an manchen Stellen zwei Pferde den leeren Wagen kaum ziehen konnten. Die Reise von hier nach Bremen dauerte 10 bis 12 Stunden, 1840 bauten die Rader die Dorfstraße unter Anleitung des Wegemeisters Pellens. Die Rader kauften die Steine fuderweise auf der Geest: a 24 bis 30 Grote, so kostete die Dorfstraße nur
500 Thaler. Es bestand die Aussicht, dass die Straße von Vorbruch nach Rade ausgebaut wurde.
Dieser Weg war furchtbar schlecht. 1849 wurde die Straße von Rade nach Vorbruch fertig.
1910, Bahnanschluss
Zwei Jahrzehnte lang hatte Rade sogar Bahnanschluss. Die Verbindung Farge-Wulsdorf-Bremerhaven, eine normalspurige Kleinbahnstrecke, wurde 1910/11 errichtet und führte bis zum Jahre 1931 den gesamten Verkehr durch. "Die Kleinbahn Farge-Wulsdorf übernimmt die Beförderung von Personen, Reisegepäck, lebenden Tieren und Gütern" lautete der offizielle Text zur Eröffnung der Bahn am 2. August 1911. Von 1931 bis 1938 fand nur noch ein Güterumschlag statt. Am 1. September 1938 wurde die Strecke von Farge bis Sandstedt stillgelegt.
1947, Erdölbohrung
Vom 3. September 1947 bis zum 30. Juni 1948 hat man hier nach Erdöl gebohrt. Ab April 1947 liefen die Vorbereitungen, unter anderem musste ein 45 m hoher Bohrturm errichtet werden. Auftraggeber war die
“BEB Erdgas und Erdöl GmbH“. Die Endteufe betrug 1804 m, Öl wurde nicht gefunden
1956, Halbstarkenproblem
Anfang Juni hatte der Lehrer in einem Elternbrief alle Eltern gebeten, ihre Kinder nicht in die abendlichen Filmvorführungen des Wanderkinos, die z.T. bis 23 Uhr dauern, gehen zu lassen, und auf die Gefahren dieser Nachlässigkeit hingewiesen, nachdem einige Mädchen der Oberstufe trotz Ermahnung des Lehrers wiederholt solche Veranstaltungen besucht hatten. Die Elternschaft hat sich einstimmig bereit erklärt, den Kindern den Besuch solcher Filmveranstaltungen zu verbieten, und der Elternrat billigte die Maßnahme des Lehrers. Das viel diskutierte Problem der "Halbstarken" dringt bis in die kleinsten Dörfer; es liegt vorwiegend ein Versagen der Eltern vor, die ihre Kinder nicht mehr "regieren" können und ihnen jeden Wunsch erfüllen.
1967, Schwimmbad
Am 12. August 1967 wurde das Freibad in Betrieb genommen. Die Baukosten betrugen DM 12.000. Die Schüler übernehmen die Reinigung der Anlage.
1969, Mündungsschöpfwerk
Seit Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die Nutzung der landwirtschaftlichen Fläche Binnendeichs (zwischen Deich und Geest) immer schwieriger. Ein Großteil der Fläche liegt auf ±0 m NHN und teilweise auch etwas tiefer. Oft standen diese Flächen wochenlang unter Wasser, wenn wegen der Tideverhältnisse in der Weser der Sielzug nicht möglich war. Durch den Ausbau der Vorfluter kam noch ein verstärkter Wasserzulauf von der höher gelegenen Geest dazu. Als Lösung baute die Rader Sielacht ein Mündungsschöpfwerk für zwei Millionen DM, dessen drei Pumpen jeweils bis zu 2,5 m³/s in das Rader-Außentief pumpen können. 1969 wurde der Schöpfwerksbetrieb aufgenommen. Die Rader Flur umfasst 603 Hektar. Das Dorf liegt auf einer Höhe von 1,5 bis 3,5 m NHN und das Außendeichgelände (zwischen Deich und Weser) hat eine Höhe von 2 m NHN.
Rade gehörte bis 1885 zum Amt Hagen danach dann bis 1932 mit den Nachbargemeinden zum Kreis Blumenthal, 1932 wurde Rade dem Kreis Osterholz zugeteilt. Nur noch wenige Einwohner arbeiten in der Landwirtschaft. 2018 gibt es noch 5 landwirtschaftliche Vollzeitbetriebe während es in den 1960er Jahren noch ca. 25, einschließlich der Nebenerwerbsbetriebe, waren. Der überwiegende Teil befasst sich aktuell mit der Micherzeugung. Die landwirtschaftliche Nutzfläche in Rade ist über die Jahre allerdings gleich geblieben. Bis Anfang der 1960er Jahre spielte die Milcherzeugung in der hiesigen Landwirtschaft eine untergeordnete Rolle, hauptsächlich wurden Kohl und Kartoffeln angebaut. Den Anbau dieser Früchte beschreibt 1798 auch schon Johann Gottlieb Visbeck in seinem Buch “Die Nieder-Weser und Osterstade“. Die Vermarktung in dieser Zeit nach Bremen, Wulsdorf und Lehe (Bremerhaven wurde erst 1827 gegründet) fand wohl hauptsächlich per Schiff statt. Erst zum Ende der 1870er Jahre gab es befestigte Wege, wahrscheinlich Kopfsteinpflaster, nach Bremen bzw. Bremerhaven. Kohl und Kartoffeln konnten jetzt mit Pferd und Wagen zu den Märkten gebracht werden. Der Weg von hier nach Bremen dauerte nur noch 6 bis 7 Stunden, d. h., mit den tagsüber geernteten Früchten musste man vor Mitternacht losfahren um morgens rechtzeitig auf dem Markt zu sein. Ab den 1960er Jahren setzte sich zunehmende Automobilität durch, Kunden konnten nun schnell und direkt erreicht werden. Aber auch die Kunden wurden mobiler und durch die wachsende Zahl der Supermärkte veränderten sich die Versorgungswege der Bevölkerung. Die Direktvermarktung wurde immer weniger nachgefragt und schließlich ca. 1985 komplett eingestellt, damit endete auch die Ära des Kohl- und Kartoffelanbaus in Rade.
Die Einwohnerzahl von Rade beträgt heute 218 Einwohner.